„Im Grunde gibt es nur eine Art wissenschaftlicher Betätigung, die eines denkenden Menschen würdig ist: das Studium der Weisheit."
Seneca
Daher stieg die Wissenschaft zur höchsten Machtinstanz im Staate auf, ohne sogenannte Sachverständigen-Gutachten wird politisch und juristisch so gut wie nichts mehr entschieden, was von Bedeutung ist. Selbst bei einem relativ glimpflich ausgehenden Autounfall, bei dem es darum geht, ob dem körperlich Geschädigten ein Schmerzensgeld zusteht, entscheiden Richter allein anhand – nicht selten vorhersehbarer – medizinischer Gutachten ohne Berücksichtigung der Beweislage sowie eigener Beurteilungskriterien. Nun sind Experten auch nur Menschen, sie liegen richtig und irren, sind unparteiisch und befangen, redlich und auf ihren Vorteil bedacht. Denken wir doch nur an die Finanz- und Weltwirtschaftskrise von 2008, die keiner der weltweit unüberschaubaren Schar an Wirtschafts- und Finanzexperten vorhersah bzw. zu verhindern wusste, die bis heute nachwirkt und jederzeit neu aufzuflammen droht. Selbst der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, die „Fünf Weisen“ genannt und allesamt Professoren, wusste hiergegen keinen sachverständigen Rat.
Andererseits behauptete einer der Begründer der Wissenschaft, ein gewisser Sokrates, der zuweilen als "weisester Mensch" und „Meister aller Meister“ bezeichnet wird, zu wissen, nicht(s) zu wissen, was einflussreiche Denker wie Karl R. Popper bewog, von „sokratischer Weisheit“ zu sprechen. Ein Aspekt der Weisheit könnte daher sein, zu wissen, wie wenig man weiß, selbst wenn man ein Wissenschaftler ist oder sich Experte nennt.
Eine Wissenschaftlerin, deren Beiträge mir fundiert erscheinen, verfasste ein Buch mit dem Titel „Von der Weisheit zur Wissenschaft“, das im Jahr 2007 erschien. Das lässt darauf schließen, dass sich eine einst weise Menschheit zu einer wissenden entwickelt hat. Und in der Tat sind uns zwar unzählige Denker und Gelehrte bekannt, aber bestenfalls eine Handvoll Weiser, doch wegen ihrer Altertümlichkeit auch nur noch schemenhaft: Laotse, Konfuzius, Siddhartha Gautama, Meister Eckhart, Thomas von Aquin, Pierre Teilhard de Chardin und die Sieben Weisen von Griechenland, damit hat es sich aber im Grunde auch schon. Es gelang mir noch nicht einmal zur Google-Suche, wer weltgeschichtlich als Weiser gilt, auch nur einen Treffer zu landen.
Vermutlich liegt dies daran, dass wir auf Detail- und Fachwissen und abstrakte Verstandeserkenntnis eingestimmten Verstandesmenschen ganzheitliche Vernunft, holistisches Wissen sowie pragmatisches Gemeinwohl für irrelevant halten und aus den Augen verloren haben. Hingegen wird Weisheit stets mit ganzheitlichem Denken und Handeln in Verbindung gebracht. Doch in unserer gegenwärtigen global vernetzten Welt bedarf der Weisheitsbegriff, um die gebotenen programmatischen Perspektiven zu öffnen, des Upgrades einer holistischen Konfiguration. Die Sophialogie, die mir am Herzen liegt, stellt die Konzeption eines solchen zukunftsweisenden Denk-, Handelns- und Wissens-, mithin Daseinsmodells dar, das ich in meinem gleichnamigen Buch hergeleitet habe.