Diese »Weißheit« unterscheidet sich von den bisherigen nicht nur durch ihre Textlänge. Mich überkam nämlich unwiderstehlich der Impuls, einen ausführlicheren und somit aufschlussreicheren Blick auf das bislang gleichsam sträflich vernachlässigte Phänomen zu werfen, das ich ob seines grandiosen Chancenpotenzials zu erforschen und möglichst populär zu machen gedenke.
Überwiegend wird sie mit einem qualifizierten Wissensgrad gleichgesetzt. Die Grundüberlegungen der Weisheitsforscher tendieren dahin, dass »Weise« über ein umfangreiches Wissen gepaart mit entsprechender Erfahrung verfügen (müssen). Doch eine solche Annahme übersieht, wer nach wie vor zu den »weisesten« Menschen gezählt wird. Derjenige, der zu dem Schluss kam, zu wissen, nicht(s) zu wissen: Sokrates gilt als einer der weisesten Menschen aller Zeiten (Kristin Raabe: Was wir von weisen Menschen lernen können, S. 72), da er als erster erkannte, dass unser Wissen ob der Ungewissheiten des Lebens ein Scheinwissen ist. So würden beispielsweise die meisten Menschen den Tod fürchten, ohne ihn zu kennen, d. h. auch nur die geringste Ahnung davon zu haben, was jener überhaupt sei. Analog verhält es sich mit der Schöpfung. Wir wissen nichts über die wahren Hintergründe und Bestimmungsfaktoren der Entstehung, Entwicklung, Regulation und Sinn des Universums sowie der Welt und ihres »Zubehörs«, denn selbst dem sogenannten Urknall liegt lediglich eine unbeweisbare Annahme zugrunde, während ganze Heerscharen von Wissenschaftlern seit Jahrhunderten zum jeweils aktuellen Zeitpunkt so tun, als wäre man im Bilde.
Wissen ist vergänglich, Weisheit hingegen beständig. Seit dem sie als Begriff existiert, gilt sie „als das Höchste, was ein Mensch erreichen kann.“ (Raabe, S. 9). Sind deshalb Weise so rar, dass jedem von uns vom Namen her vielleicht gerade noch eine Handvoll (neben Sokrates: Buddha, Jesus, Laotse, Konfuzius …) bekannt ist und das auch nur längst verblichener? Als prominenter zeitgenössischer Weiser steht im Grunde lediglich der 14. Dalai Lama zur Diskussion (Raabe S. 22). „Weisheit ist Ganzheitserfahrung, das Verständnis um die Zusammenhänge. Weisheit bedeutet […] zu wissen, was man nicht weiß – oder schlichtweg niemals wissen kann. Die Welt ist nicht nur nicht mit absoluter Sicherheit bestimmbar, die Ungewissheit ist quasi ihre Natur.“ (Raabe, S. 19, 230, 148).
Weisheit ist zum einen eine grundsätzlich jedermann verfügbare Lebens-Qualität, zum anderen die Modalität, weitestmöglich an den natürlichen Gegebenheiten und Vorgängen orientiert und dadurch optimiert zu denken, zu handeln, sich zu äußern und zu verhalten. Indem aller Natur eine optimale, mithin weise gestalterische/kompositorische und operationale Systematik zugrunde liegt, besitzt auch der menschliche Organismus eine überaus weise vegetativ-regulatorische Funktionalität: Sämtliche physiologischen Prozesse verlaufen autonom. Über die eigenen psychisch basierten Präferenzen zu entscheiden, obliegt dagegen dem menschlichen Willen. Ob sich der Mensch daher auf den Weg der Weisheit und damit zum höchsten Gipfel menschlicher Lebenskunst begeben mag, bleibt allein seinem Entschluss vorbehalten.
Da uns bislang so wenige verbürgte Weise bekannt sind, deutet darauf hin, dass der Weisheitsweg zu beschwerlich zu sein scheint, um sich auf ihn einzulassen. Und tatsächlich halten es bislang die meisten Weisheitsforscher und Weisheitssuchenden sinngemäß mit Seneca, wonach derjenige, der Weisheit suche, weise sei, doch wer glaube, sie gefunden zu haben, ein Narr. Vollkommene Weisheit stellt für jene Weisheitspilger ein Idealkonstrukt dar, das bestenfalls einem Schöpferwesen zuzubilligen sei. Doch insoweit stellt sich sogleich die Frage nach dem Referenzobjekt. Wer davon ausgeht, Weisheit nicht erlangen zu können, da sie einer Utopie gleicht, sollte sich weisheitsbezogener Annahmen enthalten. Demnach liegt die überschaubare Anzahl prominenter Weiser nicht nur daran, dass es bislang an substanziellen definitorischen Kriterien von Weisheit mangelt. Vielmehr scheint dies in der Scheu der Weiseaspiranten begründet zu sein, zu identifizieren, was als unerreichbar gilt. Anders ausgedrückt, wie sollten Weisheitsskeptiker Weisheit erkennen, geschweige denn qualifizieren können? Zumal sich Weise niemals selbst als weise bezeichnen. Hierdurch verharrt die Weisheitsthematik seit jeher in folgendem Dilemma: Diejenigen, die ihr Weisheitstool nicht bzw. noch nicht aktiviert haben, wollen darüber befinden, was Weisheit und wer weise ist. Kein Wunder also, dass es bislang weder belastbare Merkmale der Weisheit, noch eine adäquate Anzahl anerkannter Weiser gibt und das notwendige (sprich: Not [ab]wendende) Weisheitswesen ein marginales Dasein fristet.
Ich dagegen bin der Auffassung, dass der Weisheitsweg nicht nur nicht beschwerlicher als jeder andere Lebensweg ist, sondern dessen Spezifika grundsätzlich jeder gerecht werden kann. Zudem lässt sich weisheitsorientiertes Vorgehen meiner Ansicht nach relativ genau bestimmen. Meine Gedanken hierzu versuche ich nachstehend und in weiteren Folgen aufzuzeigen.
Doch zuvor ist unabdingbar eine grundlegende Fehldeutung auszuräumen. Außer dem kosmischen Weisheitsprinzip gibt es keine Weisen und kann es auch keine geben. Nur die Weisheit ist weise. Unter dem Adjektiv »weise« führt der Duden die Bedeutungen »Weisheit besitzend«, »auf Weisheit beruhend« und »von Weisheit zeugend« an. Doch besitzen kann man Weisheit nicht und dadurch ebenso wenig weise sein. Wie sollten so ein Besitz von Weisheit oder eine weise Art aussehen? Hinter Weisheit und weiser Weise (Manier) verbergen sich keine objektiven Eigenschaften, sondern subjektive Werturteile. Was hingegen Menschen von Geburt an besitzen, ist die Begabung und damit Fähigkeit, eine weise Geisteshaltung einzunehmen und sich sodann weise (auf Weisheit beruhend, von Weisheit zeugend) zu äußern, zu verhalten, weise zu handeln. Man ist nicht weise, sondern man ist begabt, sich so zu verhalten (denken, sprechen, tun und unterlassen), dass es manche für weise halten. Man besitzt bzw. hat vorübergehend Hunger, Schnupfen, Geld, längerfristig eine Ehe, ein Haus oder dauerhaft eine helle Hautfarbe und ist somit hungrig, erkältet, liquide, verheiratet, Hauseigentümer oder Weißer. Der Hungrige wird gegebenenfalls satt, der Verschnupfte gesund, der Geldbesitzer insolvent, die Ehe geschieden, der Hauseigentümer Opfer einer Zwangsversteigerung und der Weißhäutige Sonnenanbeter. Man besitzt nicht Weisheit und ist nicht weise, weil diese Zuschreibungen Prädikate sind, die Alternationen ausschließen. Wer als weise gälte, könnte nur weise Taten an den Tag legen, weil Weisheit als absolute Größe gehandelt wird. Ein(e) Weise(r) kann erklärtermaßen nicht unweise agieren. Von zeitweiligen Weisen ist bislang nichts überliefert. Weisheit ist kein Status, keine objektive Gegebenheit, Weisheiten werden von sich gegeben und subjektiv als solche beurteilt. Weil sich die Begriffe so eingebürgert haben, werde ich unter dieser relativierenden Prämisse dennoch als Weise(n) bzw. weise bezeichnen, wessen »Inerscheinungtreten« im Allgemeinen als weise empfunden wird, unabhängig davon, ob es andere gibt, die dieses Votum nicht teilen. Aus meiner Sicht erscheint es dennoch aufschlussreich, im Hinterkopf zu behalten, dass das Denken, Sprechen, Beraten, Handeln und Verhalten einer Person weise sein können, jedoch nicht die Person selbst.
Sehen wir uns das Phänomen »Weisheit« etwas näher an. An dem grammatisch femininen Genus der Weisheit im Deutschen, Griechischen (σοφία – sophia), Lateinischen (sapientia), aber auch Französischen (sagesse), Italienischen (saggezza), Spanischen (sabiduría), Russischen (мyдрость), Tschechischen (moudrost) etc. ist erkennbar, dass sie näher dem weiblichen als dem männlichen Element zugeordnet wird. Bevor Göttin Sophia durch deren männliches Pendant ersetzt und mit deren Sohn Logos unifiziert wird, erscheint Gott laut der urchristlichen Weisheitstheologie in der weiblichen Gestalt der Weisheit. Auf der nächsten Reflexionsstufe erfolgt die Verknüpfung des Logos mit der himmlischen Weisheit: Der Logos (das Wort) arriviert zum Sohn Gottes und der Sophia. Die neutestamentarische Wissenschaft schließt sich dieser sophialogisch determinierten (zweistufigen) urchristlichen Theologie an. In der ersten Reflexionsstufe der Jesustradition wird Jesus als Gesandter der göttlichen Sophia verstanden. Auch die erste christliche Theologie ist demnach die Sophialogie. In der späteren Weisheitschristologie der Evangelien wird die göttliche Weiblichkeit verdrängt, indem Sophia mit Jesus als personifizierter Weisheit in eins gesetzt wird (Elisabeth Schüssler-Fiorenza: Auf den Spuren der Weisheit). Wenn Weisheit weibliche Züge trägt, ist es umso verwunderlicher, dass alle bekannten Weisen männlichen Geschlechts sind. Dem Weisheitspfad blieb der androzentrische Geschlechterdualismus bislang offensichtlich fern.
Die Verbindung oder gar Einheit von Weisheit und Logos interessierte auch einen der bedeutendsten russischen Philosophen des 19. Jahrhunderts, Wladimir Sergejewitsch Solowjow (Владимир Сергеевич Соловьёв [*1853 †1900]). In seiner Sophiologie, einer Weisheitsphilosophie, die für eine organische Synthese von Wissenschaften, Kunst und Religion wirbt, spiegelt sich die Vision der Weisheit wider, „in der sich Herz und Vernunft, Wissenschaft und Religion miteinander versöhnen. Die Sophiologie überwindet die Trennung zwischen verschiedenen Erkenntnisformen; sie bildet eine Brücke zwischen der offenbarten mystischen Erfahrung, der rationellen Philosophie sowie den positiven empirischen Wissenschaften. Die wahre Erkenntnis ist universal-einheitlich – ganzheitlich.“ (www.sophia.sk). Die Weisheit in Gestalt der göttlichen Sophia erschien ihm dreimal, zuletzt in der ägyptischen Wüste, wohin er sich anlässlich seiner zweiten Vision begab. Die „heilige“ Sophia begriff er als einen besonders intimen Ausdruck bestimmter intuitiver mystischer Prinzipien, die ihm in seinen Visionen erschienen waren. Da er die Intimität, Persönlichkeit und Subtilität seiner Erscheinungen hierdurch zutreffender ausdrücken konnte, thematisierte er Sophia vor allem in seinem poetischen Werk. Darin bezeichnet er sie als „personifizierte Verkörperung der Idee der All-Einheit“, (möglicherweise in Anlehnung an die Bifröst-Mythologie) „Frau der Regenbogentore“, „die sonnenbekleidete Frau“, „ewige und geheimnisvolle Freundin“, „Göttin“, „Herrscherin“, „Sophia, eine mit der Weltseele identische ideale Menschheit“ oder als „die Ankunft der ewigen Weiblichkeit auf einer Welt, die dem Sieg des Wahren, Guten und Schönen gleicht.“ (Peter Rainhard Schuster: Zu Wladimir Solowjows Philosophie, S. 59). Zur (weisen) Menschheit – in Gestalt der Sophia – erklärt er: „Es ist die ‚wahrste, reinste und vollste Menschheit, die höchste und allumfassende Form und lebendige Seele der Natur und des Alls, ewig vereinigt mit der Gottheit und im zeitlichen Prozeß sich mit ihr vereinigend und alles mit ihr vereinigend, was ist.‘“ (Peter Ehlen: Solowjows Spätphilosophie, S. 15). In der Übersetzung von Solowjows Erstlingswerk Philosophische Grundlagen des ganzheitlichen Wissens resümiert Michael Altrichter auf S. 12: „Nur die Intuition, die in alternativlosen Polaritäten entstanden ist und dem Ganzen dient, lässt sich in eine Synthese einbeziehen, die (in uns) eine integrale Sophia (personales ganzheitliches Wissen) entfaltet. Unitotalität – als Liebesweg zur Sophia.“ War Solowjow weise? Wer schreibt was er schrieb, legt meines Erachtens zumindest eine weise Denkweise (wie schon das Wort besagt) an den Tag.
Kommen wir zu dem Punkt, an dem die Weisheit dem Wissen, d. h. dem wissenschaftlichen Wissen zu weichen hatte. Dies geschah im Übergang zur Neuzeit, also zum mechanistischen Zeitalter. Zu jenem Zeitpunkt wird der Begriff »Weisheit« zunehmend durch »Wissen« und mehr noch »Wissenschaft« zurückgedrängt. Infolge ihrer Verobjektivierung und Konzentration darauf, was formalisiert, analysiert und gemessen werden kann, führte die Priorisierung der Wissenschaft zur Abkehr vom subjektbezogenen, holistisch orientierten »Gespür« (Sensorium) der Weisheit zugunsten eines versachlicht-entpersönlichten Wissens der rein intellektuell-kognitiven Sphäre. Anders als das auf abstrakter Verstandeserkenntnis, Experimenten und intersubjektiv erhebbaren Gesetzmäßigkeiten beruhende wissenschaftliche Detail- und Spezialwissen, basiert Weisheit auf einer den Persönlichkeitskern repräsentierenden Geisteshaltung, welche die individuellen und gesellschaftlichen intellektuellen, emotionalen und spirituellen Aspekte der Lebenswirklichkeit ganzheitlich-holistisch begreift. Zwei wesentliche Punkte: Während sich die Wissenschaft aus moralischen Gesichtspunkten heraushält, fußt Weisheit auf einem ethisch dominierten, gemeinwohlfokussierten Fundament. Während die Wissenschaft ihren Schwerpunkt auf die Theorie legt, bilden Theorie und Praxis aus weiser Sicht die beiden komplementären Teile einer Einheit. Von Heraklit, dem man die Formel panta rhei (alles fließt) nachsagt und der von manchen als ein Weiser gehandelt wird, soll der Satz stammen: „Gesund denken ist größte Tugend, und die Weisheit besteht darin, die Wahrheit zu sagen und zu handeln gemäß der Natur – auf sie hinhörend.“ Unabhängig davon, für wie weise Heraklit gehalten werden kann, ist diese Aussage meiner Meinung nach nicht nur weise, sondern zugleich eine, die eine treffende Definition von Weisheit enthält.
Unter diesem Aspekt erhalten die Werturteile »unwissenschaftlich«, »pseudowissenschaftlich« oder gar »esoterisch«, sofern sie despektierlich gemeint sind, ein ungeahnt glanzvolles Synonym: »weise«. Begründung: Der höchsten von Menschen anerkannten Instanz, dem göttlichen Prinzip, eilt unter anderem seit jeher der Ruf voraus, vollkommen weise zu sein. So ist auch für die »Päpste« der klassischen griechischen Philosophie und Mitbegründer unserer Wissenschaften, Platon und Aristoteles, Gott weise (sophós), der Mensch hingegen ein nach Weisheit strebender (philósophos). Wer ein göttliches Prinzip priorisiert, was nicht gerade auf wenige zutrifft, hält es für weise und allwissend, doch keiner für »nur« wissenschaftlich. Schlussfolgerung: Spirituell betrachtet genießt Weisheit einen höheren Rang als Wissenschaft, aus ganzheitlicher Sicht jedenfalls keinen geringeren. Aus weiser Perspektive stellt Wissenschaft einen integralen Bestandteil des (kosmischen) Weisheitsprinzips dar, deren Optimum in einer weisheitsorientierten Forschung und Lehre (vgl. Weißheit „Wissenheit“) besteht bzw. mündet. Ob religiös, spirituell, wissenschaftlich oder neutral aufgefasst: das System »Universum« basiert zweifelsohne auf unermesslicher Weisheit. Die Wissenschaft ist »lediglich« ein Instrument, diese Weisheit schritt(chen)weise (in kleinen weisen Schritten) zu erkennen und zu ergründen. Die Schöpferinstanz des Universums muss weise sein, doch mitnichten ein(e) Wissenschaftler(in) – was sollte Allwissenheit erforschen? Wenn mithin Ansichten forschender Geister als unwissenschaftlich, pseudowissenschaftlich oder esoterisch bezeichnet werden, kann es sich durchaus um weise Anschauungen handeln. Denn eine zukunfts-weise-nde Wissenschaft (»Wissenheit«) schließt intellektuelle Meinungen und Erkenntnisse nicht deshalb aus, weil sie (noch) nicht dem aktuellen wissenschaftlichen Stand(ard) entsprechen. Und vor allem: In ihrer Ganzheitlichkeit und daher Offenheit gegenüber neuen Erfahrungen, einem ihrer Hauptmerkmale, erachtet Weisheit jedwede (»wohlwollende«) Meinung und Impulse für instruktiv, wissens- und überlegenswert. Wer angesichts der Genialität und schöpferischen Unerschöpflichkeit des Universums was auch immer für absurd, sinnlos oder unmöglich hält, hat dessen Grundprinzip nicht verstanden. Heraklits Gnome, das Verhalten an der Natur auszurichten, trifft daher den Nagel auf den weisen Kopf. „Wenn wir in die Natur blicken, dann sehen wir eine höhere Ordnung der Harmonie. Mit dem Menschen ist in der Evolution erstmals ein selbstreflektierendes Bewusstsein aufgetaucht, doch es identifiziert sich heute immer noch weitgehend mit der Form. Wir sind nun in einem Übergang, in dem wir begreifen werden, dass wir nicht nur Form sind, sondern auch Formloses.“ (Annette Kaiser in: Im Haus der Weisheit, S. 82 f.).
Die Erforschung aber auch bereits die Definition des Phänomens »Weisheit« stößt an ihre Grenzen, sobald sie wissenschaftlich angegangen wird. Denn einem holistischen Faktor wie der Weisheit lässt sich nicht analytisch auf die Spur kommen. Anders als die Wissenschaft basiert Weisheit nicht auf dem quantitativ-fragmentierbaren, reduktionistischen, sondern auf dem integrativ-qualitativen, universalistischen Prinzip. Sie forschend zu erfassen kann daher nur auf synthetisierende Weise (Berücksichtigung der Zusammenhänge) gelingen. Weisheit lässt sich nicht beobachten, formalisieren, kategorisieren, messen, sondern ahnend erkennen, intuitiv erfassen, subjektiv erspüren. „Man muss nicht selbst weise sein, um Weisheit bei anderen erkennen zu können“ (K. Raabe, S. 10), zur Definition und Erforschung der Weisheit bedarf es jedoch einer synthetischen Herangehensweise und mithin einer integralen Lebensauffassung.
Zur Abrundung seien nachfolgend einige signifikante Auszüge aus Kristin Raabes Buch wiedergegeben: „Weise Menschen verfügen über eine besondere Denkfähigkeit, die es ihnen ermöglicht, zu Schlüssen zu kommen, die andere nicht ziehen können. Sie blicken hinter das Offensichtliche.“ Sie „nutzen ihre vielfältigen Talente nicht zu ihrem eigenen Vorteil, sondern setzen sie zum Wohl der Allgemeinheit ein. Die Fähigkeit, Konflikte zu lösen, darf bei einem Weisen niemals fehlen. Obwohl sie eigentlich dringend erforderlich wäre, hat es die Weisheit heute schwer. Heraklit hätte das Problem sofort erkannt: Vielwisserei ist das Gegenteil von Weisheit und wir leben in einer Gesellschaft von Vielwisserei. Alle Probleme, die sich uns stellen, versuchen wir mit dem Heranziehen neuen Wissens zu lösen.“ Aber „mehr Wissen schafft neue Wahlmöglichkeiten, die Unsicherheit nach sich ziehen. Das sind genau die Situationen, in denen sich Weisheit bewähren würde. Aber kaum jemand sucht heute noch danach. Stattdessen versuchen wir, die Unsicherheitslöcher durch immer neues Fachwissen zu stopfen. Nicht selten entstehen dadurch aber wieder neue Fragen und Unsicherheiten, die das Problem auch nicht lösen.“ Heutzutage verlassen wir uns auf unser Wissen stärker als je zuvor. „Dass auch dieses Wissen oft nur Scheinwissen ist, weil es einem nicht wirklich dabei hilft, mit der Ungewissheit des Lebens umzugehen, ignorieren wir. Wir brauchen also Weisheit, um mit den Entscheidungen und Unsicherheiten, die uns die Vielwisserei beschert hat, umgehen zu können.“
Erinnern wir an diesem Zusammenhang des „Jahrtausendweisen“ Sokrates, dessen Weisheit darauf gründete, erkannt zu haben, hinsichtlich der maßgeblichen Dinge des Lebens ein Nichtwissender zu sein (= in Ungewissheit zu leben) und seine Zeitgenossen ihres Scheinwissens überführte. Daran hat sich letztlich bis heute, also seit rund 2500 Jahren, nichts geändert. Trotz unserer Vielwisserei stochern wir nicht nur im Hinblick auf die Verwirklichung eines allseits glückseligen (eudämonischen) Lebens und damit einer friedvollen Welt weiterhin im Nebel. Nicht Gemeinwohl, sondern Angst und Profitgier regieren die Welt. Hierdurch sind die meisten Menschen mit den gegebenen Um- und Zuständen – im Mindesten latent – unzufrieden, selbst diejenigen, die materiell hinreichend gut situiert sind. Allenthalben herrscht offenkundig oder unterschwellig die Stimmung vor, man komme oder könnte zu kurz kommen. Wem dies unbewusst sein sollte, möge sich vergegenwärtigen, wie er allein die derzeitigen oder jeweiligen politischen Entscheidungen, Programme und Wahlergebnisse beurteilt.
Kristin Raabe zitiert die Psychologin Vivian Clayton, der zufolge wir darauf programmiert seien, Weisheit zu erkennen: „Aber was Weisheit ist und wie jemand lernt, weise zu sein, ist immer noch ein Mysterium.“ Ich meine, dass unsere Weisheitsprogrammierung so zu verstehen ist, dass wir darauf gepolt sind, uns jederzeit weise zu gerieren und dies weit weniger mysteriös ist, als es uns deshalb erscheint, weil diese phänomenale Eigenschaft aus leicht nachvollziehbaren Motiven seit jeher von institutioneller Seite wohlweislich nicht stimuliert, sondern im Gegenteil supprimiert wird. Umso erstrebenswerter sollte es für jede(n) von uns sein, unser Bestes, das eigene Weisheitspotenzial zu aktivieren, optimal auszuschöpfen und dem eigenen Denken, Handeln und Wissen zugrunde zu legen.
Der Unterschied zwischen anzueignendem Wissen und angeborener Weisheit sei an vier willkürlichen und beliebig ergänzbaren Beispielen skizziert:
• Stichwort: Rauchen. Setzen wir uns atmend einer beliebigen Rauchquelle aus, ereilt uns reflexbedingt ein Hustenreiz. Dank unseres weisen Menschenverstandes erahnen wir daraufhin, dass sich der weise Körper per Hustenreiz gegen Rauch wehrt, da dieser ihm offensichtlich schadet. Unser Weisheitsprogramm wurde aktiviert und fortan meiden wir das Einatmen von Rauch. Nun geraten die meisten irgendwann in ein Umfeld, in dem ihre Freunde und/oder zumindest die Werbung sie wissen lassen, wie cool es doch sei, nikotinhaltigen Rauch zu inhalieren und der anfängliche Hustenreiz einfach nur mannhaft unterdrückt werden müsse. Danach seien Vergnügen und Freiheit grenzenlos. Wissend, dass auf Freunde und Werbung (weshalb sollte man sonst so viel Geld dafür ausgeben) Verlass und „einmal keinmal“ ist, fällt dann der Griff zur Zigarette nicht allzu schwer. Unser Weisheitssensor signalisiert: Niemand setzt sich freiwillig dem Einatmen von Rauch aus, sobald es also »Vergnügen« bereitet, stimmt etwas nicht. Doch unser Wissensvorrat beschwichtigt: Halb so schlimm. Kettenraucher Helmut Schmidt wurde bei einem täglichen Konsum von 40 Zigaretten trotz Herzschrittmacher, Bypass und Thrombose knapp 97 Jahre alt.
• Stichwort: Elektromobilität. Dank unserer nicht erst im Zusammenhang mit dem Rauchen aktivierten Weisheitsapp ahnen wir, dass der massive Ausstoß von Stickoxyden durch Verbrennungsmotoren, wie schon der Name sagt, der Gesundheit nicht gerade förderlich sein dürfte. Zugleich wissen wir, dass unsere Verbrennungsmotoren-Technologie seit jeher Umwelt- und Gesundheitsschäden verursacht, längst durch weit umwelt- und gesundheitsschonendere Elektrofahrzeuge ersetzbar ist und dass es daher im eigenen Interesse weise wäre, auf jene umzusteigen. Zwar wird der bevorstehende Durchbruch der Elektromobilität industrieseits aus Gründen der Gewinnmaximierung verzögert, doch könnte sich jeder, der es sich leisten kann und das sind sehr viele, ein eMobil zumindest als Zweitfahrzeug anschaffen und seine Kurzstrecken, die bei vielen den Löwenanteil ihrer Fahrten ausmachen, damit zurücklegen. Die Weisheit mahnt: Tue es, zumindest deinen Kindern zuliebe! Doch der Thinktank wiegelt ab: Noch sind Infrastruktur und Akkutechnologie nicht ausgereift. Meine Nachbarn und Arbeitskollegen warten auch noch ab, bis sich die Reichweite verlängert und die Ladezeit verkürzt. Wenn ich zu früh dabei bin, stehe ich zum Zeitpunkt der breitflächigen Umstellung zuletzt noch als Dumme(r) da und werde meinen eGebrauchten nicht mehr los.*
• Stichwort: Knappheit. Seit es die Wirtschaftswissenschaften gibt, lassen sie uns wissen, dass wir Menschen mit Knappheit bzw. Mangel leben müssen: „Knappheit folgt aus der Tatsache, dass die Menge der Güter, die zur vollständigen Befriedigung der menschlichen Bedürfnisse (Sättigung) notwendig ist, deren Verfügbarkeit bzw. die Möglichkeiten der Produktion übersteigt. Knappheit bzw. knappe Güter sind der Grund des wirtschaftenden Handelns von Menschen. Die auf Märkten jeweils auftretenden Preise sind Ausdruck dieser Knappheitsrelation (Knappheitspreise). Güter, die überall und mit der gewünschten Qualität in hinreichendem Umfang vorhanden sind, um die Bedürfnisse aller Individuen einer Volkswirtschaft zu einem gegebenen Zeitpunkt zu befriedigen, [nennt man freie Güter, Anm.]. In einer Marktwirtschaft hat ein freies Gut einen Preis von Null, z.B. Luft.“ (www.wirtschaftslexikon.gabler.de). „Das durch Kapitalakkumulation und technischen Fortschritt ermöglichte Wachstum der Produktion hat bislang die Knappheit nicht durchgreifend reduzieren können, weil sich durch das Hinzutreten neuer Güter und Dienstleistungen auch die Bedürfnisse entsprechend vermehrt haben.“ (www.wirtschaftslexikon24.com). Der weise Geist bedenkt: Angesichts des Güterüberangebots, das uns die omnipräsente Werbung aufzudrängen versucht, scheint es einzig und allein an Realitätssinn und/oder Redlichkeit der Wirtschaftswissenschaftler zu mangeln, denn an Urteilsfähigkeit sollte es Professoren eigentlich nicht hapern. Das Universum und damit auch unser blauer Planet kennen weder Knappheit noch Mangel, sondern ausschließlich Fülle und Überfluss, die uns tagtäglich allein unsere Supermärkte spiegeln, deren Anzahl bezeichnenderweise ständig zunimmt. Und wer auch nur eine Spur von Marketing versteht, der weiß: Bedürfnisse führen kein Eigenleben, (kommerzielle) Bedürfnisse werden von den Güteranbietern mit großem Werbeaufwand (der auf die Konsumenten überwälzt wird) geweckt.
• Stichwort: Metaphysik. Darunter fällt das Gedankengut, welches „das hinter der sinnlich erfahrbaren, natürlichen Welt Liegende, die letzten Gründe und Zusammenhänge des Seins behandelt.“ (Duden). Mit anderen Worten geht es dabei um all die Dinge, die unser Leben und Sterben tangieren und derer Erforschung sich die klassischen Wissenschaften wegen »Unwissenschaftlichkeit« enthalten. Wie der Verweis auf die »Zusammenhänge des Seins« erkennen lässt, handelt es sich dabei nicht zuletzt um Fragen, die mit einer weisen Geisteshaltung in Verbindung stehen. Im aktivierten Weisheitsmodus spüren daher viele Menschen, dass zum Beispiel Entstehung, geniale Beschaffenheit und Funktionsweise der Natur, deren Teil sie sind, keine Laune des Himmels sein kann, sondern auf einer Kombination von höchster Intelligenz und vollkommener Weisheit beruht, die aus imaginativen Gründen mehrheitlich Gott genannt wird. Andererseits lässt uns die etablierte Wissenschaft wissen, dass dies alles aus purem Zufall geschah. Wer sodann nicht zum realitätsfremden »Esoteriker« abgestempelt werden will, schließt sich wider besseres Ahnen der Wissensthese an. Auf diese unweise Weise lassen wir uns von Ungewissheiten ängstigen und fürchten uns vor Dingen, von denen wir nichts wissen. So fürchten mehr oder weniger wir alle den Tod, zumindest den sogenannten frühen, ohne auch nur die leiseste Ahnung zu haben, was jener Zustand bedeutet. Ungewissheit macht jedoch nur denen Angst, die Wissen der Weisheit vorziehen. K. Raabe formuliert es wie folgt: „Die Ungewissheit des Lebens auszuhalten gehört zum Schwierigsten, was auf dem Weisheitsweg errungen werden muss. Es ist Bestandteil der Natur des Menschen, dass wir uns nach Stabilität und Sicherheit sehnen. Ungewissheit aber birgt Gefahr, Zweifel, Risiko. Nichts davon wollen wir wirklich in unserem Leben haben. Also verdrängen die meisten Menschen diese Ungewissheit. Es sind Weise, die ihr mutig ins Auge blicken und es immer wieder schaffen, in ihrem Angesicht richtige Entscheidungen zu treffen.“
Wem die als weise apostrophierten Optionen auf den ersten Blick lediglich vernünftig erscheinen sollten, der beachte deren uneigennützig-ethischen Charakter. Weise Gedankenführung und Entscheidungen behalten stets das Gemeinwohl im Auge, während Vernunft durchaus egoistisch motiviert sein kann. Wem es schiene, als bezöge sich das erste Beispiel nur auf die jeweilige Person, mache sich die größeren Zusammenhänge des Rauchens, wovon einer das Passivrauchen ist, bewusst.
Während sich Wissen ausgesprochen fluid und volatil verhält, indem es meistens schnell überholt ist, zeichnet sich Weisheit durch Beständigkeit aus. Denn anders als Wissen, das primär einer quantitativen Ansammlung gleicht, ist Weisheit eine qualitative Begabung, zudem die wertvollste, über die Menschen verfügen. Wissen müssen wir uns mühsam aneignen (Motto: lebenslanges Lernen), Weisheit wird uns in die Wiege gelegt. Dieser Auffassung, wonach Weisheit in jedem Menschen von Geburt an angelegt ist und somit zu unseren essenziellen nativen Qualitäten zählt, bin natürlich nicht nur ich (vgl. Jeanne Hay, Annette Kaiser in: Im Haus der Weisheit, S. 57, 86). Diese uns innewohnende Weisheit ist letztlich damit identisch, was wir »gesunder Menschenverstand« nennen und präziser »weiser Menschenverstand« nennen könnten. So wie das vollkommene (kosmische) Weisheitsprinzip nicht nur weise ist, sondern vor allem weise wirkt, beruht ein Wesensmerkmal der menschlichen Weisheit darin, nicht nur Weises von sich zu geben, sondern auch weise zu handeln – mit anderen Worten, zu sagen, was man (Weises) denkt und zu tun, was man (Weises) sagt: „Wissen kann man auch etwas, ohne sich danach zu richten, aber nicht weise sein.“ (Alois Hahn in: Weisheit, S. 52).
Trotz ihrer relativen Textfülle gibt die vorliegende »Weißheit« lediglich eine grobe Skizze des unerschöpflichen Komplexes »Weisheit«, dem ich noch so einige »Weißheiten« und letztlich ein Fachbuch zu widmen beabsichtige, wieder. Bei narrativer Ganzheitlichkeit bevorzuge ich die bildhafte Form des Kreises, der sich am Ende der Ausführungen schließt. Deshalb schließe ich diesen Beitrag dort, wo er begann: bei seiner Überschrift. Ich denke, dass Rezipienten meiner Website erkennen können, dass Sophia für den griechischen Ausdruck »Weisheit« und Logie für das Wortbildungselement mit der Bedeutung »Lehre, Kunde, Wissenschaft« steht, das wiederum vom griechischen logos abstammt. Logos, das ursprünglich Wort, später auch Rede und Sprache bezeichnete, erhielt im philosophischen Kontext ein breites „Bedeutungsspektrum, das von Gedanken, Beweis, System bis hin zur Weisheit reicht.“ (Eva-Maria Kaufmann: Sokrates, S. 58). Die begriffliche Assoziation mit der Weisheit als dem männlichen Pendant zur göttlichen Sophia legte ich oben dar. Aus diesem Blickwinkel könnte der von mir gewählte Begriff »Sophialogie« als weise Weisheitsforschung interpretiert werden und entspräche damit meiner Intention, das Weisheitswesen auf möglichst weise Weise zu erkunden.
Aus all dem folgere ich:
Weise sein, das ist nicht schwer, wissend sein hingegen sehr.
* www.msn.com/de-de/finanzen/top-stories/mobilität-zahl-der-e-autos-weltweit-steigt-sprunghaft-–-deutschland-hinkt-hinterher/ar-BBJ9TOf?MSCC=1518761941&ocid=spartanntp
Bildnachweis: Joseph Kranak – Flickr: Sophia-Ephesus, CC BY 2.0, Link