Wie unterscheidet sich die holistische Rhetorik von der herkömmlichen? Das lässt sich am anschaulichsten an der politischen Rhetorik aufzeigen. Sehen wir uns hierzu ein aktuelles Beispiel an. Es handelt sich um einen nachstehend in Kursivschrift und Anführungszeichen wiedergegebenen (gekürzten) Kommentar vom 13.09.2017 auf www.t-online.de mit der Überschrift "Wir müssen wieder Antworten verlangen."
„Der Bundestagswahlkampf plätschert seinem langweiligen Ende entgegen. Wir erleben eine politische Kissenschlacht mit Parteien, die aus strategischem Kalkül wichtige Themen aussparen. Deutschland wählt 2017 Emotionen und nicht eine Idee für eine bessere Gesellschaft.
Zuerst die gute Nachricht: Auf den deutschen Straßen spricht man derzeit viel über Politik. Die Bundestagswahl ist allgegenwärtig und der digitale Wahlkampf hat sich, neben den Reden auf Marktplätzen und dem Werben an den Haustüren, als feste Größe in der politischen Landschaft etabliert. Es könnte die Zeit sein, in der Bürger und Parteien in einer vernetzten Welt gemeinsam über ein „besseres“ Deutschland diskutieren. Stattdessen besetzen die Parteien lediglich die Themen, die das Land aktuell emotional bewegen. Die TV-Duelle waren Sinnbild eines hochgradig strategisch geführten Wahlkampfes. Das Ergebnis sind inhaltlich ausgehöhlte Debatten, die den Menschen das Gefühl geben, nicht zwischen unterschiedlichen politischen Positionen wählen zu können. In den Debatten geht es primär um Angst und Wut, und alle Parteien positionieren sich so, dass sie die Mehrheit der Bevölkerung hinter sich meinen. „Klare Kante“ hört man dieser Tage oft. So mag es nämlich der Volksmund. Wichtige Zukunftsaufgaben gehen im Meer aus Angst und Wut unter. Neue politische Visionen polarisieren, und es gibt keine politische Agenda ohne Menschen, die dadurch benachteiligt werden. Diese „Opfer“ kann keine Partei brauchen, besonders nicht im Wahlkampf. Deshalb schieben wir mittlerweile einen Berg ungelöster Zukunftsfragen vor uns her: Ist die Rente trotz des demografischen Wandels zukunftsfähig? Wird unser Bildungssystem den Anforderungen einer tertiären Dienstleistungsgesellschaft gerecht? Wie können mehr Menschen am Wohlstand in diesem Land teilhaben? Wie gehen wir mit der zunehmenden Altersarmut um? In Deutschland geht es den Menschen tatsächlich gut, besonders im Vergleich zu anderen Ländern. Aber nicht alle, die bei diesen Worten mahnend den Zeigefinger heben, reden Deutschland schlecht. Gesellschaftlicher Fortschritt erstickt dann, wenn man versucht, Kritik mundtot zu machen. Wir sollten niemals die Augen davor verschließen, wenn Kinderarmut steigt, wenn Rentner mit Flaschensammeln ihre Rente aufbessern müssen oder wenn die Lohnentwicklung im europäischen Vergleich stagniert – trotz wirtschaftlichem Wachstum. Die Politik weicht diesen Themen aus. Parteien funktionieren teilweise wie Wirtschaftsunternehmen, nur dass es ihnen statt um Gewinnmaximierung um die Maximierung von Wählerstimmen geht. Ein derartiges politisches System verbaut Deutschland den Weg in die Zukunft. Die Parteien müssen auch komplexe Themen wieder anpacken, selbst wenn sie dadurch polarisieren und potentielle Wähler verprellen. Und die Deutschen müssen sich trauen, wieder von einer besseren Gesellschaft zu träumen. Es ist ein erster Schritt in die richtige Richtung, dass sich die Menschen wieder zunehmend für Politik interessieren. Doch sie müssen auch nach Antworten auf die komplizierten Zukunftsfragen verlangen. Wenn die Menschen wieder an Wandel glauben und politische Ideen zum wichtigen Kriterium von Wahlentscheidungen werden, entsteht auch wieder politischer Wettbewerb. Und dann gehören Koalitionsgespräche in TV-Duellen hoffentlich der Vergangenheit an.“
Die herkömmliche Rhetorik mag es kämpferisch. Wenn vor Wahlen die Werbung der Parteien um die Gunst der Wähler keinem Kampf gleicht, sondern zur „Kissenschlacht“ verkommt, kehrt gähnende Langeweile ein. Schließlich geht es um ein ‚besseres‘ Deutschland. Wem stellt sich daraufhin nicht die Frage, wie beim Festhalten am Seitherigen eine Besserung eintreten kann? Ein bestehender Zustand bedarf zur Verbesserung notwendigerweise einer Veränderung. Doch wer dafür plädiert, TV-Duelle anstelle von TV-Duetten, mithin die bisherige Kampfrhetorik beizubehalten und sich zugleich eine bessere Welt wünscht, dessen Hoffnungen dürften weiterhin unerfüllt bleiben. Wie die Volksweisheit „Worte sind mächtig, drum wähle sie bedächtig“ offenbart, sind Worte energetische Kraftfaktoren, die zunächst unsere Weltanschauung und schließlich unser Handeln prägen. Verbale Kämpfe sind die Wegbereiter physischer Kampfhandlungen. Solange wir verbal für dies und gegen jenes kämpfen, nehmen wir unser bzw. das Leben als einen Kampf wahr. Stellen Kämpfe (Duelle) eine bessere Welt dar als ein friedfertig-respektierendes Miteinander (Duette)? Die Chance auf Verbesserung sichern wir uns meines Erachtens dann, wenn wir unsere Worte, also unsere Ausdrucksweise »irenisieren«, d. h. unserem Sprechen eine friedvolle Tönung verleihen.
Der Kommentator bemängelt, dass wichtige Zukunftsaufgaben in emotional besetzten Themen untergehen, die Angst und Wut schüren. Zugleich missfällt ihm, dass TV-Duelle wie Koalitionsgespräche anmuten, der politische Wettbewerb abhanden gekommen ist und Emotionen die Idee einer besseren Gesellschaft ersetzen. Doch welche Emotionen wecken verbale Duelle, Redeschlachten, eine kämpferische Rhetorik? Lassen sich Zukunftsaufgaben eher durch Opposition als durch Koalition lösen? Stehen die vom Kommentator angeführten ungelösten Zukunftsfragen in keinem Bezug zu Emotionen? Besteht die Idee einer besseren Gesellschaft in mehr Konkurrenz, in mehr Kampf als in mehr Einigkeit? Was nützen neue politische Visionen, wenn sich niemand für sie interessiert? Wenn die Menschen das Gefühl haben, nicht zwischen unterschiedlichen politischen Positionen wählen zu können, liegt es nicht an der Politik, sondern an den Wählern, die sich mehrheitlich für die seitherige Politik entscheiden und neue politische Visionen, die es freilich gibt, ignorieren.
Die Bundestagswahl steht an und man hört und liest selten so oft wie vor Wahlen das Wort »müssen«. Die Parteien müssen dies, die Deutschen müssen das und die Menschen müssen jenes, kurzum: wir müssen müssen. Aber wer sind »wir« und wieso »müssen« wir? Der Kommentator meint, dass »wir« mittlerweile einen Berg ungelöster Zukunftsaufgaben vor uns herschieben. Aber wer von »uns« muss sie anpacken bzw. weshalb tun »wir« es nicht? Vielleicht deshalb, weil ein auf Kampf und Duell eingestelltes Wettbewerbsdenken weit weniger dazu neigt, sich als dem Gemeinwohl zugetane Wir-Gemeinschaft zu empfinden als eine weltschätzende holistische Sinnesart, die kein »müssen« kennt.